New York City
„New York City ist die heisseste Stadt, wenn man einen neuen Boyfriend und ein Hotelzimmer hat.“ Keine Ahnung, wer damals in den Achtzigern, als die aus der DDR ausgebürgerte Ostberliner Rockröhre diese Songzeile auf Vinyl pressen liess, Nina Hagens Boyfriend war. Fakt ist, dass New York City ebenso eine ziemlich kalte und harte Stadt sein kann, besonders natürlich, wenn man kein Hotelzimmer hat.
Der Blick nach oben ist auf jeden Fall erst einmal atemberaubend. Die Skyline Manhattans beeindruckt wohl jeden Besucher nachhaltig. Wolkenkratzer wachsen förmlich um die Wette, als wäre es so ein Männerding, bei dem jeder zeigen will, dass er den Grössten hat. Aber egal wie toll die Aussicht aus den eben errichteten und astronomisch teuren Luxusbüros und Appartements heute auch sein mag: Immer müssen die Käufer befürchten, dass morgen der nächste Neubau die teure Sichtachse auf den Hudson River oder nach New Jersey beeinträchtigt oder gar ganz blockiert.
Die Straßenschluchten zwischen diesen Hochhausriesen werden derweil immer enger und dunkler. Atemberaubend können auch sie werden, atemberaubend im unangenehmen Sinn. Der Gestank aus dunklen Garageneinfahrten, engen Subway-Eingängen oder den zu Bergen aufgestapelten Müllsäcken am Straßenrand kann besonders an heissen Tagen infernalisch sein.
Die von livrierten Doormen sorgfältig abgeschirmten Bewohner in den oberen Stockwerken der High-End Condominiums bekommen davon entweder nicht so viel mit, oder sie blenden die Diskrepanz zwischen ihrem privilegierten Dasein und der teilweise himmelschreienden Armut am Boden einfach aus. Diese Armut ist die düstere Seite der Stadt und sie lässt sich im dunklen Untergrund unter dem spiegelnden Glanz der Glasfassaden nur notdürftig verbergen.
Wer dem „immer schneller, höher, weiter“ des American Way of Life nicht gewachsen ist, wer von diesem Weg abkommt und scheitert, dem zeigt New York City – so wie viele andere Großstädte auf der Welt auch – buchstäblich den Stinkefinger. Vielleicht werden die Kontraste in dieser Metropole allerdings besonders schmerzhaft sichtbar, weil die Architektur hier immer wieder Anlauf nimmt, die Grenzen des Machbaren zu sprengen. Wenn die Gesellschaft der Stärksten sich solchen geradzu obszön wirkenden Reichtum leisten kann, warum schafft sie es nicht, den Ärmsten wenigstens ein halbwegs menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen?
Vom wirtschaftlichen Erfolg eines Systems profitieren vor allem jene, die sowieso schon haben. Den Preis für Fehlentscheidungen der Politik oder der Topmanager aber zahlen in erster Linie die abhängigen Arbeitnehmer. Sie werden gefeuert, wenn Quartalszahlen nicht den Erwartungen der Investoren entsprechen oder wenn Marketingstrategen die falschen Produktlinien vorangetrieben haben. Die einst übermächtige amerikanische Autoindustrie ist das beste Beispiel dafür. Ihre legendären Marken Chevrolet, Cadillac, Pontiac oder Buick sind fast völlig aus dem Straßenbild verschwunden. Abgesehen von ein paar GMC Pckup-Trucks und den dunkel verglasten panzerartigen Suburban-Großraum-Limousinen sind fast nur japanische, koreanische und ein paar europäische Fahrzeuge zu sehen. Das hat viele Industriearbeier in die Arbeitslosigkeit getrieben. Das Risiko von Krisen und die Folgen von Katastrophen lasten eben stets vor allem auf den Schultern der Schwächsten. Zwischen diesen Fronten wird zunehmend die Mittelschicht zerrieben. Mit Sparsamkeit und ehrlicher Arbeit mag es gelingen, ein kleines Vermögen aufzubauen, so wie manche chinesische Einwanderer es geschafft haben. Aber wirklich sicher fühlen kann man sich damit in dieser Stadt nicht.
Neben den gigantischen Bauten von Downtown Manhattan wirken die oft heruntergekommenen alten Backsteingebäude von Chinatown fast gemütlich. Aber auch dieser historische Stadtteil ist bedroht. Denn zahlungskräftige Investoren werfen längst begehrliche Blicke auf die Profit versprechenden Grundstücke und die Bewohner fürchten um ihre gerade noch bezahlbaren Wohnungen, Lokale und Läden in ihrem Kiez. Sie protestieren vor dem kleinen Museum zur Geschichte der chinesischen Einwanderer. Dessen Kuratoren werfen sie vor, die Seele des Viertels für eine Millionenspende verkauft zu haben. Das alte Gebäude soll einem modernen Stahl- Beton und Glasklotz weichen, so wie wohl viele Häuser in seiner Nachbarschaft auch.
Der Gegenseite ist nahezu jedes Mittel recht, um die angestammten Bewohner des Viertels zu verdrängen. Die Coronakrise hat dabei geholfen. Durch Restaurantschließungen wurden Existenzen unterminiert und Pächter aus den von ihnen genutzten Immobilien vertrieben. Die Anlieger protestieren aber auch gegen ein geplantes „Megajail“, ein Großgefängnis mitten in Chinatown. Es könnte den Anfang vom Ende dieses Traditionsquartiers markieren, die Gentrifizierung vorantreiben und die heutigen Bewohner zu Heimatlosen machen.
Freilich, es gibt da noch die NYC-Housing Lottery, bei der gesponserte Appartements im Losverfahren an Bewerber aus unteren Einkommensschichten vergeben werden. Aber wieviele der Bedürftigen können davon tatsächlich profitieren? Die Anzahl der irgendwo am Straßenrand Kampierenden lässt befürchten, dass dieses Programm auch nur als soziales Feigenblatt dient.
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